Wer heute, wir schreiben das Jahr 1995, an einem Sommertag einen Spaziergang von den Propyläen zum Karolinenplatz macht, wird sich an dem Wechselspiel von hellen klassizistischen Architekturen und üppigem Grün erfreuen. Studenten eilen über die Rasenflächen des Königsplatzes zu ihren Instituten, andere genießen vor der Glyptothek die Sonne. Hier findet der Besucher sein "Isar-Athen", jenes heiter-erhabene Stadtbild, das den romantischen Visionen Ludwigs I. entsprang und von den heutigen Stadtvätern so sorgfältig gepflegt wird. Aber er findet keinen einzigen Hinweis darauf, daß sich hier zwischen 1933 und 1945 das Parteizentrum der NSDAP ausbreitete, daß der ehemals grüne und 1988 wiederbegrünte Königsplatz 1935 in ein steinernes Forum für Massenkundgebungen verwandelt worden war, daß sich hier das Dritte Reich in einer exemplarischen Verknüpfung von Bürokratie, Kult und Propaganda so augenfällig wie kaum anderswo in Szene gesetzt hat.....
Das weitgehende Ignorieren des nationalsozialistischen Geschichtskapitels in München basiert auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens, der sich exemplarisch in den seit dem 19.Jahrhundert mit Eifer betriebenen Imagebemühungen einer durchwegs konservativen Regenten- und Einwohnerschaft fassen läßt. Mit Formeln wie "Isar-Athen" und "Künstler- und Musenhort" bis zu "Freizeitparadies" und "Weltstadt mit Herz" wurde und wird das Bild der heiter-unbeschwerten freundlichen schönen Großstadt vor weißblauer Alpenkulisse propagiert. Die Einbeziehung der braunen Vergangenheit ergäbe eine unerwünschte Dissonanz. ....
Piero Steinle, aus: Iris Lauterbach, Julian Rosefeldt, Piero Steinle, u.a.: Bürokratie und Kult - Das Parteizentrum der NSDAP am Königsplatz in München, Geschichte und Rezeption, München, 1995