... Das Haus ist verschwunden.
Der Schock aber bleibt. Der Schock und die unheimliche Faszination, daß etwas, das in jahrelanger Arbeit,
mit höchstem bautechnischem Verstand und vielleicht mit großem geistigem und künstlerischem Anspruch errichtet
wurde, in Sekundenschnelle bis zur totalen Unkenntlichkeit zerstört, als amorphe Masse niedergelegt werden kann.
Doch auch noch im Untergang zeigen die Bauten Charakter. Gemauerte Architekturen gehen weich in die Knie, wenn
ihnen die Standfläche weggeschossen wird; sie lösen sich in ihre Bestandteile auf und legen sich auf Halde.
Kirchtürme, die aus schweren Steinquadern gefügt sind, kippen pathetisch langsam und monumental zur Seite,
sehen auch im Fallen noch aus, als wenn sie zu retten wären; sie verlieren erst beim Aufprall ihre Gestalt,
zerbrechen in wuchtige Teile, die immer noch Würde haben, ja beredt von der alten Größe Zeugnis ablegen. Schornsteine
in ihrer bruchgefährdeten Überlänge tanzen ein kurzes Ballett des Todes, bevor sie zusammengestaucht werden oder sich
in voller Länge zu Boden legen; sie knicken, aus den Angeln gehoben, an mehreren Stellen ein, als hätten sie plötzlich
Gelenke bekommen, und taumeln dann weich in der gewünschten Richtung zu Boden. Hochhäuser aus Stahlbeton mit ihrem
starren Skelett zeigen äußerlich kaum Verformungen, wenn die zentralen Stützen wegknicken; sie falten sich von unten
nach oben Stockwerk für Stockwerk zusammen, werden erst beim Aufeinanderprallen der ausgesteiften Massen chaotisch
bizarr zerfetzt. Dickwandige Bunker schließlich lassen sich nur in pyrotechnischer Kleinarbeit in Stücke hauen, aber
nicht in die Luft sprengen ...
Gottfried Knapp, in: Julian Rosefeldt und Piero Steinle (Hrsg.), Detonation Deutschland, München 1996